Studienfahrt Weserrenaissance,
30.4.–2.5. 2015

Tatsächlich eine kleine Premiere noch im siebten Jahr unserer Studienfahrt: Erstmals dauerte sie drei Tage. Zudem reiste bereits am Vortag die Hälfte der insgesamt 40 Teilnehmer an, 10 von ihnen Gäste aus dem Bergischen Geschichtsverein, und genoss schon ab dem 29. Mai die gastliche Wohlfühl-Atmosphäre des „Germanenhofs“ in Sandebeck. Sehr gut und günstig waren dort nicht zuletzt die Abendessen-Menus im Rahmen unserer Halbpension. Sowohl diese Quartier-Empfehlung als auch die inhaltlich sehr gelungene Konzeption der Fahrt verdanken wir vor allem unserem Vorstandsmitglied Dr. Sigrid Lekebusch. 2010 leitete sie eine ähnliche Reise für „ihren“ Wuppertaler Geschichtsverein – und wiederholte ihren damaligen Glücksgriff. Für die fundierte kunsthistorische Begleitung gewann sie Dr. Christoph Heuter, Denkmalpfleger in Westfalen. Sein ausgeprägtes Talent, Wissenschaft lebendig, anschaulich und mitreißend zu vermitteln, machte unsere Exkursion zu einem ganz besonderen Erlebnis. Zudem gelang ihm immer wieder, was wir mit einem Bonmot als „Erheuterung“ seiner Zuhörer bezeichneten.

Durchweg heiter auch das Wetter: Bis auf einen kurzen Regen am ersten Nachmittag blieb uns die Sonne treu. Als weitere optimale Rahmenbedingung hatten wir erstmals ein Audiosystem gebucht: Empfänger mit „Knopf im Ohr“ für jeden Teilnehmer sowie Sendegeräte nebst Headset-Mikrophon für Reiseleiter bzw. Führer in Schlössern und Museen. Diese Bewegungsfreiheit war Gold wert: Jeder konnte der Führung in seinem eigenen Rhythmus folgen; konnte kürzer oder länger verweilen bei den jeweils betrachteten Gebäudeteilen, Ausstellungsstücken usw.; und niemand verlor jemals den Anschluss an die Gruppe.

Donnerstag, 30. April

Erstes Ziel war Schloss Brake, mit Wassergraben und markantem Turm, erbaut 1587 unter Graf Simon VI. zur Lippe. Renaissancefürst mit großem Interesse an Kunst und Wissenschaft, beobachtete er vom Schlossturm aus die Sterne und stattete seine Residenz mit Bibliothek und Gemäldesammlung aus. Hier wurden wir mit wesentlichen Stilelementen der Renaissance vertraut: welsche Giebel (geschwungene Form nach italienischem Vorbild), Kerbschnitt-Bossensteine (Quader mit gleichförmigen, kerbenartigen Ornamenten), besonderes Beschlagwerk (Ornament besonders an Giebelkanten und Portalen), Streifenputz (in rautenförmiger Schraff Fächerrosetten (Halbkreise mit Fächerornamenten) und Utlucht (niederdeutsch für „Auslug“: ein vom Erdboden ausgehender,

 

 
Lemgo, Rathaus (alle Fotos: Susanne Schmitz)

erkerartiger Vorbau). – Im 19. Jahrhundert wurde der Westflügel abgebrochen; seit 1986 beherbergt das Schloss das Weserrenaissance-Museum.
Renaissancehäuser in unterschiedlichem Erhaltungszustand, jedes mit eigenen Charme, präsentierte uns die alte Hansestadt Lemgo. Ein Highlight darunter das Rathaus mit Ratsstube, Rathauslaube und Ratsapotheke. Zu dieser Gestalt wuchs das Ensemble über Jahrhunderte hinweg, begonnen 1480 als Gerichtssitz: ein Quaderbau mit offener Bogenhalle, Staffelgiebel und Spitzbogenfenstern. Das Eckhaus, erbaut 1525 und ab 1559 Ratsapotheke, stellt ein Glanzstück der späteren Weserrenaissance dar.
Ein Abstecher führte uns in die Marienkirche, vom 14. bis in das 16. Jahrhundert Klosterkirche der Dominikanerinnen. Ihr Inneres zeigt spätromanische und frühgotische Stilelemente, vor allem im Chor. 1528 wurde erstmals ein protestantischer Gottesdienst gefeiert und 1575 das Dominikanerinnenkloster umgewandelt in ein evangelisches Jungfrauenstift.

Mit dem Besuch der Nikolaikirche wandten wir uns wieder der Weserrenaissance zu, verkörpert insbesondere durch den Turmhelm von 1569, die geschnitzte Kanzel und den Taufstein. Dessen Einfassung ist in üppiger Renaissancemanier reich verziert mit kannelierten Säulchen, Bibelzitaten in Inschriftenkartuschen, Fruchtgirlanden, Putten, Löwenköpfen – hier werden sämtliche Register dieses Stils gezogen.
Den Abschluss bildete das Museum „Hexenbürgermeisterhaus“, erbaut 1568–1571; eines der größten und repräsentativsten Bürgerhäuser in Lemgo. Im 17. Jahrhundert bewohnte es Bürgermeister Hermann Cothmannn (Amtszeit 1667–1683), der sich als Jurist bei Hexenprozessen den Ruf eines „Hexenjägers“ erworben hatte. Bedeutend ist das Haus wegen seiner recht gut erhaltenen inneren Aufteilung sowie aufgrund seiner aufwändigen Weserrenaissance- Fassade. An deren Unterbau gibt es eine breite, reich durchfensterte Zone aus angesetzten und auf die Straße vorgeschobenen Vorbauten: die Utlucht; üblich geworden an Steinbauten der Renaissance und an Fachwerkbauten des 17. und
18. Jahrhunderts.

Freitag, 1. Mai

Die Residenzstadt Detmold bietet einen passenden Vergleich zur Kleinstadt Lemgo. Für beide Städte, angelegt im 13. Jahrhundert in Form eines Dreistraßenschemas, gilt Bernhard III. als Gründer. Auch hier sahen wir viele eindrucksvolle Bürgerhäuser der Weserrenaissance, errichtet u. a. von den Meistern dieses Stils Georg Crossmann und Cord Tönnies. Das Schloss ist der Wiederaufbau der ehemaligen Burg der Grafen zur Lippe, zerstört 1447 in der Soester Fehde. Die Vierflügelanlage nimmt ein Drittel des Altstadtterrains ein. Bernhard VIII. verpflichtete Baumeister Jörg Unkair aus Schwaben, der ältere Teile der Burg in den Neubau einbezog (Bergfried) und den Grundriss dem von ihm erbauten Schloss Neuhaus in Paderborn nachempfand. Bis zu seinem Tod 1553 errichtete Unkair westliche Teile des Nordwestflügels sowie des nördlichen und östlichen Treppenturms. Sein Nachfolger Cord Tönnies vollendete das Schloss. Von der Innenausstattung sind besonders erwähnenswert Stuckdecken, Kamine, Gemälden und Gobelins aus dem 17. Jahrhundert. Die Hämelschenburg gilt als das Hauptwerk der Weserrenaissance und bildet mit Kunstsammlungen, Gärten, Wirtschaftsgebäuden und Marienkapelle eine der schönsten Renaissance-Anlagen Deutschlands. 1588 begonnen unter Jürgen Klencke (1551–1609), Rittmeister am Grafenhof Nienburg/Weser, und seiner Frau Anna von Holle, Nichte des Lübecker Bischofs Eberhard von Holle aus Verden, zog sich ihr Bau 30 Jahre lang hin. Die couragierte Schlossherrin Anna bewahrte im Dreißigjährigen Krieg das Anwesen vor Plünderung und Zerstörung, indem sie General Tilly entgegenfuhr und einen Schutzvertrag aushandelte. Gleichermaßen erfolgreich taktierten die Schlossherren im Siebenjährigen Krieg (1756–1763). So blieb das Ensemble mit seinen vier aufwändig gestalteten Giebeln, 17 Zwerchhäusern, zwei hohen, kupfergedeckten Treppentürmen und doppelgeschossigen Erkern, mehreren Portalen und einer prächtigen Zugangsbrücke über den mit Karpfen besetzten Schlossteich bis heute vollständig erhalten.

Die 1563 erbaute Schlosskapelle, ab 1652 Gemeindekirche von Hämelschenburg, zählt zu den frühesten evangelischen Kirchenbauten Norddeutschlands. Das reformatorische Gestaltungsprogramm brachte Orgel, Altar und Taufbecken an


Hämelschenburg mit Schlossteich

die Stirnseite des Gotteshauses. Der reiche Renaissanceschmuck stammt noch aus der Ausstattung durch Anna und Jürgen Klencke in den Jahren vor 1609. Ein Kleinod am Wegesrand: die Immanuel-Kirche in Hehlen. Erbaut 1697–1699 nach Plänen  des  braunschweigischen  Landbaumeisters  Hermann  Korb  (tätig überwiegend im Weserraum und rings um Braunschweig/Wolfenbüttel) gilt sie als eine der frühesten ausgeprägten Zentralraumkirchen des Protestantismus in Deutschland. Rechts und links des Altars erinnern hölzerne Epitaphe an den Förderer des Baus Friedrich Achatz von der Schulenburg und seine Frau. Das Kircheninnere beeindruckt mit doppelgeschossigen Emporen, im Untergeschoss gegliedert durch weiß marmorierte Pilaster, im oberen von korbbogigen Arkaden überspannt. Darüber ein achtseitiges Spiegelgewölbe mit Stuckdekor.

Wie schon bei der erwähnten BGV- Exkursion vor fünf Jahren hatte Teilnehmer Jürgen Rottmann seine Trompete mitgebracht und erfreute uns mit einer Solo-Einlage; ebenso am folgenden Nachmittag in der Abteikirche Corvey. Dafür ein herzliches Dankeschön.
Vor der Rückkehr in den Germanenhof legten wir spontan einen kleinen Exkurs ein: Zum 500 Meter hohen Köterberg,


Köterberg, der „Brocken“ des Weserberglands

auch genannt „der Brocken des Weserberglands“. Über dessen sanfte grüne Hügel und Wälder hat man von dort oben einen ausgezeichneten Blick – weit hinaus bis auf Harz und Habichtswald.

Samstag, 2. Mai

Während wir am Donnerstag und Freitag im Reisebus gefahren waren bestiegen am Morgen des Abreisetages alle Teilnehmer ihre eigenen Autos – nein: nur fast alle! Ein gutes halbes Dutzend tat sich in Fahrgemeinschaften zusammen; denn der Germanenhof und seine Umgebung gefielen ihnen so gut, dass sie kurz entschlossen einen Zusatz-Tag gebucht hatten.

Unser Vormittags-Ziel war Höxter, eine der ältesten Städte Norddeutschlands, im Jahr 823 erstmals erwähnt. Bereits um 800 datiert die Missionskirche des hl. Kilian. Ins Licht der schriftlichen Überlieferung tritt die Stadt mit Gründung der nahegelegenen Reichsabtei Corvey, unter deren Herrschaft und aufgrund deren wachsenden Ansehens hat sich Höxter frühzeitig zu einer der bedeutendsten Städte Westfalens entwickelt. Ab dem 13. Jahrhundert befreiten sich die Bürger zunehmend aus der Herrschaft des Corveyer Abtes. Zur ungefähr gleichen Zeit jedoch verlor der Hellweg über Höxter mehr und mehr sein wirtschaftliches Gewicht an neue Brücken-Orte: Die Stadt wandelte sich vom Fernhandelsplatz zum regionalen Markt.

1533 schlossen sich die Bürger der Reformation an, während der Corveyer Abt und die umliegenden Orte katholisch blieben. In dieser Epoche geistiger Neuorientierung und weitreichender städtischer Autonomie entstanden zahlreiche prächtige Fachwerkbauten der Weserrenaissance, welche die historische Altstadt bis heute prägen. Darunter Haus Horstkotte in der Stummrigestraße Nr. 19, ein hochherrschaftliches Bürgerhaus von 1554 mit reichem Schnitzwerk. Auf den Ständern geschnitzte Landsknechte, darunter ein Fahnenträger und ein Pfeifer. – Die einzige Darstellung einer Kreuzigungsgruppe an einer Giebelwand im Oberweserraum findet man am Adam-und-Eva-Haus von 1571. Auch das historische Rathaus aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zählt zu den eindrucksvollen Gebäuden der Stadt.

Krönender Abschluss unserer Studienfahrt: Kloster Corvey. Hervorgegangen aus einer Gründung Karls des Großen und der durch dessen Sohn Ludwig den Frommen 815 errichtet Propstei Hethis wurde das Kloster 826 selbstständig; sein Name wandelte sich über Nova Corbeia (neues Corbie) zu Corvey. Mittelpunkt der großzügigen ehemaligen Klosteranlage ist die Abteikirche St. Stephanus und Vitus, geweiht 844. Ihr Bau begann um 830: eine schmale dreischiffige Basilika mit Querschiff und Umgangsapsis. Ab dem 10. Jahrhundert löste sich Corvey von der westfränkischen Kultur, womit der Niedergang begann. Letzter bedeutender Abt war Wibald von Stablo (1146–1158). In seine Regierungszeit fiel die Verleihung des Titels „Reichsabtei“ durch Kaiser



Gruppenbild vor der Abtei Corvey

Konrad III. 1220 erfolgte die Erhebung zur Fürstabtei. Durch Kriege und Misswirtschaft, namentlich im Dreißigjährigen Krieg, wurde die Abtei fast vollständig zerstört. Die Kirche wurde zwischen 1667 und 1683 neu erbaut; bis 1699 waren dann auch die Abteigebäude als barocke Residenz neu errichtet. Das Schloss befindet sich heute im Besitz der Herzöge von Ratibor, Fürsten von Corvey.

Ältester erhaltener Bauteil ist das 873 unter Abt Adalgar erbaute Westwerk. Von der Eingangshalle führen Treppen in den zweigeschossigen Mittelraum (Johannischor) mit freigelegten Wandmalereien aus Ornamentbändern, Akanthusranken und geometrischen Mustern. Einmalig ist die Darstellung des Kampfes zwischen Odysseus und dem Ungeheuer Skylla. Die ab 1667 erbaute Kirche ist ein Saalbau in gotisierendem Stil mit hohen Spitzbogenfenstern und Kreuzrippengewölbe ohne Gurtbogen. Ihre reiche Innenausstattung in den Formen des Paderborner Barock steht in auffallendem Kontrast zum karolingischen Johannischor. Seit dem 21. Juni 2014 ist Corvey Weltkulturerbe unter dem offiziellen Titel „Das Karolingische Westwerk und die Civitas Corvey“.

Susanne Schmitz